Kurzgeschichten schreiben

Kurzgeschichten sind die Königsdisziplin beim Schreiben. Sie sind nicht etwa ein „Einstieg“ bevor man einen Roman beginnt, sondern eher umgekehrt. Durch ihre Kürze und die Gerafftheit der Handlung und die hohen Ansprüche an die Entwicklung der Handlung bis zum überraschenden Ende macht die Kurzgeschichte notwendig, dass man als Schriftsteller sein Handwerkszeug perfekt beherrscht.

Man muss mit Tempi, Spannung, wiederkehrenden Symbolen und eingebauten Andeutungen und mit der Zuspitzung einer Handlung exakt auf den Punkt der plötzlichen Wende hin sehr vertraut sein und gut umgehen können, um eine überzeugende Kurzgeschichte schreiben zu können.

Das überraschende Ende ist der zentrale Punkt der Kurzgeschichte

Alles im Verlauf der Geschichte scheint auf einen anderen, folgerichtig erscheinenden Ablauf der Geschichte hinzudeuten. Lediglich geschickt eingestreute Andeutungen lassen im Nachhinein erkennen, dass man hier gedankenlos einem Trugbild aufgesessen hat.

Die Hinweise auf das Ende des Geschehens, das einen so überrascht, waren alle da – man hat sie nur übersehen, oder falsch interpretiert. Aus dem Nachhinein betrachtet, wenn man das tatsächliche Ende kennt, treten diese Hinweise deutlich hervor – aber nur dann.

Würde man der Kurzgeschichte das Ende nehmen, das sie tatsächlich hat, käme nie jemand auf die Idee, dass die Geschichte gerade so enden könnte. Liest man sie ein zweites Mal, wenn man das Ende kennt, wird einem völlig klar, dass sie eigentlich so enden musste.

Das ist es, wie gute Kurzgeschichten funktionieren. Oder funktionieren sollten. Beispiele dafür gibt es viele in der Literatur. Wirklich gute Kurzgeschichten sind heute selten geworden – der Begriff wird meist auch noch für Machwerke strapaziert, die schon als Geschichten einiges zu wünschen übrig lassen, und ein oft deutlich vorhersehbares, recht banales Ende haben. Sie sind eben nur kurz, darum werden sie Kurzgeschichten genannt.

Mit dem eigentlichen Genre und seinen Voraussetzungen hat das aber nichts zu tun.

Kurzgeschichten sind sehr schwer zu schreiben

Vor allem der spontane Umschwung der Handlung und ein völlig konträres Ende als Ergebnis des Handlungsstrangs machen es schwierig, eine gute Kurzgeschichte zu schreiben. Man braucht viel Gefühl für Timing und Handlungsabläufe – und viel Kreativität, um ein gut passendes, aber völlig unerwartetes Ende zu finden.

Ein gutes Beispiel für diese Funktion ist in einem alten persischen Sprichwort zu finden: Ich weinte, weil ich keine Schuhe hatte./ Bis ich einen Mann traf, der keine Füße hatte. Hier würde man nach dem ersten Satz etwas völlig anderes erwarten.

Etwa, dass der jenige Schuhe geschenkt bekommen würde, oder auf wundersame Weise welche finden würde. Stattdessen erfahren wir als „Auflösung“ der Geschichte, dass er einen Mann traf, der keine Füße hatte.

Er hatte ebenfalls keine Schuhe (weil er ja auch keine brauchte) aber er war sogar noch schlechter dran. Damit hätten wir nicht gerechnet. Das plötzliche, unerwartete Ende bringt uns zum Nachdenken.

Es ist in gewisser Weise eine – sehr geschickt angelegte – Mini-Kurzgeschichte, die das Wesen des Genres hervorragend deutlich macht. Im ersten Satz werden wir auf eine unmissverständliche Weise davon in Kenntnis gesetzt, dass es sich um eine verzweifelte Notlage handelt. Wir können die Dramatik der Situation spüren, das Drängen und erwarten damit instinktiv als Auflösung eine Behebung der Situation auf nicht alltägliche Weise.

Stattdessen wird die Verzweiflung aber nicht behoben – sondern die Dramatik dadurch aufgelöst, dass sich plötzlich die Erkenntnis breit macht, dass man es doch gar nicht so schlimm hat – angesichts einer noch schlimmeren Lage.

Die Geschichte hat damit ein rundes Ende, ist gut aufgelöst – und wir sind um ein überraschendes Ende und sogar noch um eine Erkenntnis reicher. Und das in zwei Sätzen.

Das sollte man sich immer als leuchtendes Beispiel für eine Kurzgeschichte vor Augen halten. Auch die Kürze bei der Kurzgeschichte sollte man ernst nehmen. Die Handlung muss stark gerafft werden, und auf das Nötigste begrenzt bleiben.

Alles Überflüssige und Störende muss beseitigt werden, damit am Ende jedes kleinste Detail eine Bedeutung hat. Entweder es dient dazu, uns irrezuführen, oder es dient als versteckter, später erkannter Hinweis auf das tatsächliche Ende der Geschichte.

Bedeutungslose Details darf es in der Kurzgeschichte nicht geben, alles schmückende Beiwerk wird radikal entfernt. Alles erfüllt einen bestimmten, vorgegebenen Zweck. Das erfordert viel Disziplin beim Schreiben – kann aber richtig Spaß machen. Versuchen Sie es einmal!