Märchen schreiben
Fast alle von uns können sich noch mit einem warmen Gefühl im Bauch daran erinnern, wenn wir in unserer Kinderzeit Märchen erzählt oder vorgelesen bekamen, uns freuten, vertraute Geschichten immer wieder zu hören.
Wie wir uns vorstellten, auch in den alten Zeiten voll mit Holz und Kohlen verschlingenden Öfen, furchterregenden dunklen Wäldern und bösen Hexen zu leben. Wie wir uns danach ins Bett kuschelten, und uns die Decke über den Kopf zogen. Aber woher kommen Märchen eigentlich? Und wer schreibt die?
Märchen sind genau genommen alte Volkserzählungen, die nur von bestimmten Menschen gesammelt und aufgeschrieben wurden. Die Gebrüder Grimm beispielsweise haben ein halbes Leben damit zugebracht, diese Geschichten zu sammeln, die zum Teil schon Jahrhunderte alt waren.
Sie wurden in bestimmten Gebieten von Generation zu Generation weitergegeben, zu den Zeiten, wo Geschichten erzählen noch so ziemlich die einzige Unterhaltung war, die Menschen hatten. Dieser Definition von Märchen folgend, kann man eigentlich gar keine „neuen“ Märchen schreiben – man kann nur welche aufschreiben, die früher mündlich erzählt wurden. Oder alte Märchen neu erzählen.
Fabeln und Sagen
Auch bei Fabeln und Sagen verhält es sich so ähnlich wie bei Märchen, auch sie sind alte Volkserzählungen, die zuvor schon lange mündlich überliefert wurden. Lediglich bei Fabeln gibt es hin und wieder neue Dichtungen, die sich aber selten weithin durchsetzen. Fabeln spielen immer in der Tierwelt, wobei die Tiere personifiziert werden, und bestimmte Eigenschaften erhalten, die ihnen der Volksmund schon von alters her zuschreibt.
So sind Hasen vor allem furchtsam und schnell, Füchse sind schlau und Wölfe brutal. Diese Eigenschaften sind oft vielschichtig – so ist der Hase ein Fluchttier, ein Beutetier und das bevorzugte Opfer des Fuchses – damit schreibt man ihm auch eine geringere Intelligenz zu, als beispielsweise dem schlauen Fuchs.
Nur so kann er sich vom Igel beim Wettlauf übertölpeln lassen.
Moderne Fabeln schreiben
Wenn man eine moderne Fabel schreibt, muss man auf diese traditionellen, zugeschriebenen Eigenschaften immer Rücksicht nehmen, das heißt man muss sie auch gut kennen. Das geht am besten, wenn man die traditionellen Fabeln liest, aus denen der Charakter der einzelnen Tiere deutlich wird.
Die ältesten Fabeln gehen schon auf die Zeit der Römer oder sogar noch früher zurück – an den Zuschreibungen hat sich seit damals nichts grundlegend verändert, deshalb sollte man das auch bei modernen Fabeln nicht tun.
Die Stereotype sind hier ein wesentlicher Bestandteil dieser literarischen Gattungen – auch wenn sie ungerecht oder unzureichend sind, sind sie doch notwendig.
Ein ebenso grundlegender Bestandteil ist natürlich die „Moral von der Geschichte“. In Fabeln zeigt sich immer der Extremfall der Prämisse, wie sie auch bei allen anderen Werken (etwa bei Romanen) notwendig ist. Bei der Fabel ist die Prämisse aber das Um und Auf, sie muss in jedem Fall am Ende als unweigerlicher Schluss einleuchtend erscheinen.
Beim Hasen und beim Igel ist das sehr interessant: Die Moral ist einerseits, dass man über vermeintlich unterlegene nicht lachen sollte, weil sie einem möglicherweise dennoch in manchen Situationen überlegen sein können – und daneben, dass man sich eine Frau aus dem eigenen Stand suchen sollte, also eine, die so ist, wie man selbst.
Die Frau des Igels hatte am Ende der Bahn ja den Hasen getäuscht, weil sie dem Igel so ähnlich sah. Hier ist die Moral deutlich zurechtgebogen auf das soziale Anliegen, das mit der Fabel unterstrichen werden sollte – man erkennt das deutlich, das macht aber genau den Reiz der Fabel und ihrer Moral aus, weil das jeder weiß.
Neue Märchen braucht das Land nicht
Abgesehen von den Fabeln, bei denen es manchmal Neudichtungen gibt, macht es keinen Sinn, traditionelles Volksgut nachzudichten. Das ist wegen der Vielschichtigkeit der alten Erzählungen auch überaus schwierig.
Vieles an Märchen ist archetypisch, und jedes Ding hat seine eigene im innewohnende Entsprechung. So steht der Wald archetypisch nicht nur für Dunkelheit, Finsternis und Grausamkeit, sondern repräsentiert archetypisch auch die grausame Seite der eigenen Abkunft – der Eltern, oder insbesondere der Mutter.
Ferne Länder oder Traumwelten meinen fast immer das eigene, innere Erleben oder die inneren Erlebniswelten. Die ganze Gestaltung des Märchens ist dabei von Symbolen durchsetzt, die im Zusammenhang richtig gedeutet werden müssen.
So deutet eine Versammlung von Hexen immer auf eine Abstammung aus der Sidhe-Tradition der keltischen Mythen, also auf die Feenwelt hin, und verweist das Märchen daher in den keltischen Kulturkreis.
Auch Wasser, Schatten, Gottesbilder und alte Weise sind in Märchen immer stellvertretend gebraucht.. Aus den Bildern neue Zusammenhänge konstruieren zu wollen, die sie ihrer Symbolkraft entheben wird den tatsächlichen Funktionen der Märchen, nämlich als symbolhafte Darstellung unterbewusster Vorgänge und als Lösungsmittel für innerpsychische Konflikte nicht gerecht.
Einfach fantasievoll und gedankenlos eine Geschichte zu erfinden, wäre am Ende also kein „echtes“ Märchen.